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The Rest Is Noise - das 20 Jahrhundert Hoeren
Ross Alex
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In seinem gefeierten Buch erzählt Alex Ross über die Musik des 20. Jahrhunderts. Indem wir ihm zuhören, lauschen wir der eigenen Geschichte: den großen Biografien, den utopischen Träumen, den schicksalhaften Veränderungen.
Im Frühjahr 1928 bereiste George Gershwin, der Schöpfer der Rhapsody in Blue, Europa und lernte die führenden Komponisten seiner Zeit kennen. In Wien besuchte er Alban Berg, dessen blutgetränkte, dissonante, dunkel-erhabene Oper Wozzeck drei Jahre zuvor in Berlin uraufgeführt worden war. Zur k Begrüßung seines amerikanischen Gastes ließ Berg ein Streichquartett seine Lyrische Suite spielen, worin der Wiener Lyrismus so auf die Spitze getrieben e wird, dass er wie ein gefährliches Narkotikum wirkt.
Danach schritt Gershwin zum Klavier, um einige seiner Lieder zu spielen. Er zögerte. Bergs Werk hatte ihn mit Ehrfurcht erfüllt. Konnten seine eigenen Stücke in dieser düster-sinnlichen Umgebung bestehen? Berg sah ihn streng an und sagte: "Mr. Gershwin, Musik ist Musik."
Wenn es nur so einfach wäre. Letztlich wirkt jede Musik auf ihr Publikum nach denselben physikalisch-akustischen Gesetzen, sie bewegt die Luft und erzeugt so eigenartige Empfindungen. Doch im fi 20. Jahrhundert ist das musikalische Leben in eine brodelnde Masse verschiedenster Kulturen und Subkulturen zerfallen, die alle ihren eigenen Kanon, ihre eigene Sprache entwickelt haben. Manche Genres sind populärer geworden als andere ; keines hat echte Massenwirkung. Was eine Gruppe von Hörern erfreut, verursacht einer anderen Kopfschmerzen. Hip-Hop-Tracks begeistern Teenager und schockieren ihre Eltern. Beliebte Schlager, die einer älteren Generation das Herz brechen, sind in den Ohren ihrer Enkel süßlicher Kitsch. Bergs Wozzeck ist für manche eine der fesselndsten Opern, die je geschrieben wurden ; Gershwin fand das jedenfalls und ahmte sie in Porgy and Bess nach, nicht zuletzt in den verwehten Akkorden, die "Summertime" umspielen. Für andere ist Wozzeck bloß ein Wust von Missklängen. Solche Diskussionen werden schnell hitzig; wir reagieren unduldsam auf den Geschmack anderer, bisweilen gar gewaltsam. Andererseits kann uns Schönheit an unerwarteten Orten begegnen. "Wo wir auch sind", schrieb John Cage in seinem Buch Silence, " wir hören meistens Lärm. Ignorieren wir ihn, stört er uns. Lauschen wir ihm, finden wir ihn faszinierend." fi
Klassische Komposition des 20. Jahrhunderts, das Thema dieses Buches, klingt für viele wie Lärm. Sie ist eine weitgehend ungezähmte Kunst, eine noch nicht assimilierte Untergrundszene. Mögen die abstrakten Spritzer eines Jackson Pollock auf dem Kunstmarkt 100 Millionen Dollar und mehr einbringen, mögen die experimentellen Arbeiten eines Matthew Barney oder David Lynch in Studentencafés in aller Welt analysiert werden, ihre musikalische Entsprechung erzeugt immer noch leichte Schauder des Unwohlseins in den Konzertsälen und so gut wie keine Wirkung außerhalb derselben. Klassische Musik erfüllt das Klischee einer Kunst der Toten, deren Repertoire bei Bach beginnt und bei Mahler und Puccini endet. Manche Menschen sind ernsthaft überrascht, wenn sie hören, dass es immer noch Komponisten gibt, die Musik schreiben.
Dabei sind deren Klänge gar nicht so fremdartig. Atonale Akkorde tauchen im Jazz auf; avantgardistische Klänge hört man in Filmmusiken aus Hollywood; der Minimalismus hat die Rock-, Pop- und Klubmusik seit den Velvet Underground beeinflusst. Manchmal klingt diese Musik wie Lärm, weil sie fl Lärm ist, oder jedenfalls beinahe, und das mit Absicht. Manchmal vermischt sie, wie in Bergs Wozzeck, Bekanntes und Fremdes, Wohlklang und Missklang. Manchmal ist sie von so einzigartiger Schönheit, dass man verblüfft nach Luft schnappt, wenn man sie hört. Bei einer Aufführung von Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du temps fi mit seinen großartig singenden Melodielinien und sanft tönenden Harmonien bleibt jedes Mal die Zeit stehen.
Weil Komponisten in jeden Bereich des modernen Lebens vorgedrungen sind, lässt sich ihre Arbeit nur auf der allergrößten Leinwand darstellen. The Rest is Noise zeigt nicht nur die Künstler selbst, sondern auch die Politiker, Diktatoren, ...